Ostern soll man in der Kirche und nicht auf dem Friedhof begehen, meint der Kirchenhistoriker Viktor Antonow. Aber weil es in der Sowjetunion verpönt oder gar verboten war, in die Kirche zu gehen, besuchten die Gläubigen lieber die Gräber ihrer Nächsten und begingen dort das Osterfest.
Die Tradition, die sich gegen Behörden und Kirchenobere entwickelte, ist, wenn man so will, fast schon ein Beispiel für Zivilgesellschaft zu Sowjetzeiten.
Schnell entwickelte sich daraus eine Art Volksfest, so dass bis heute viele Menschen, ob gläubig oder nicht, zum Friedhof spazieren und dort ein Picknick mit Kulitsch, Pascha und Ostereiern veranstalten. Der eine oder andere Schluck Wodka darf dabei nicht fehlen. Viele sitzen auch auf den Friedhofsbänken und füttern Vögel mit ein paar Brotresten. Die Stimmung der meisten Besucher ist ausgelassen. Ostern ist schließlich Tag der Wiederauferstehung, also ein Festtag der Lebenden und nicht der Toten.
Eine andere Erklärung für den Brauch, an Ostern auf den Friedhof zu gehen, besteht darin, dass das Fest oft mit dem Beginn des eigentlichen Frühlings zusammenfällt, der Schnee gerade geschmolzen ist und viele Gräber tatsächlich gepflegt werden müssen.
Für das Andenken an die Verstorbenen gibt es bei der orthodoxen Kirche einen speziellen Gedenktag, der zehn Tage nach Ostern begangen wird. Doch da dieser Tag der Eltern auf einen Werktag fällt, sind viel weniger Menschen auf dem Friedhof als zu Ostern.
Auch die Behörden haben sich mit der Sitte schon abgefunden. Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow richtete in den vergangenen Jahren wegen des großen Andrangs zusätzliche Buslinien zu den Friedhöfen der russischen Hauptstadt ein.
Die orthodoxe Kirche ist mit diesem Brauch allerdings nicht einverstanden. Manche beschuldigten den Bürgermeister, die Verletzung des Kirchenkanons mit seinen Aktionen zu unterstützen.
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