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Andreas Schockenhoff, Russlandbeauftragter der Bundeskanzlerin (Foto: Mrozek/.rufo)
Andreas Schockenhoff, Russlandbeauftragter der Bundeskanzlerin (Foto: Mrozek/.rufo)

Schockenhoff: Wirtschaft und Zivilgesellschaft (Teil 1)

Moskau. Neue Ansätze versucht der Russland-Beauftragte der Kanzlerin, Andreas Schockenhoff zu formulieren: "Die Helfer-Haltung ist in vielen Fällen nicht mehr angemessen; die Begegnung auf Augenhöhe, wie es sich viele in Russland wünschen, sollte zunehmend selbstverständlich werden."

Wir dokumentieren in drei Teilen seine Rede am 22.6.2009 vor der deutsch-russischen Auslandshandelskammer - und seine Thesen für ein Rundgespräch mit Vertretern russischer NGOs.


Schockenhoff-Rede Teil 1

Schockenhoff-Rede Teil 2

Schockenhoff-Rede Teil 3



Vortrag vor der deutsch-russischen Auslandshandelskammer, Montag, 22. Juni 2009


Sehr geehrte Gäste, verehrte Damen und Herren,

Es ist mir eine große Ehre, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen. Dass wir uns zu diesem wichtigen Thema austauschen können, dafür danke ich der deutsch-russischen Auslandshandelskammer und der Konrad-Adenauer-Stiftung, die es möglich gemacht haben. Dieser Austausch ist umso wichtiger, als wir uns in schwierigen Krisenzeiten treffen, die neue Fragen aufwerfen, aber auch neue Möglichkeiten eröffnen.

Der Redner:
Dr. Andreas Schockenhoff, MdB

Koordinator für die deutsch-russische zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit

Stellv. Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion für Außen-, Sicherheits- und Europapolitik
Mit einigem Amüsement habe ich von einem russischen Verwaltungschef gelesen, der seinen Beamten kürzlich verboten hat, das Wort „Finanzkrise“ in den Mund zu nehmen. Die Krise finde „im Kopf und nicht in der Wirtschaft“ statt, war seine Begründung. Ich kann nur sagen, dass ich es umgekehrt erlebe.

Die Wirtschaftskrise hat Deutschland fest im Griff - auch wir müssen inzwischen mit einem Rückgang des BIP von 6% für dieses Jahr rechnen – aber sie ist bis jetzt auch bei uns noch nicht in allen Köpfen angekommen. Ich selbst erlebe sie allerdings an allen Fronten – direkt als Abgeordneter, in meiner Region am Bodensee, die stark mittelständisch geprägt ist, aber auch als Vizefraktionsvorsitzender meiner Partei, wo ich täglich sehe, wie die internationale Finanzkrise alle Aspekte der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik berührt – und natürlich als Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-russische zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit, die von der Krise ebenfalls grundsätzlich betroffen ist.

Innerhalb dieser Zusammenarbeit spielen die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen selbstverständlich eine zentrale Rolle. Auch wenn viele von Ihnen sich das vielleicht nicht bewusst machen sollten, so sind die meisten deutschen Unternehmen sog. „zivilgesellschaftliche Akteure“ und ich zähle sie damit zu den Partnern des Russland-Koordinators! Es ist also mehr als angebracht, dass wir mit einander ins Gespräch kommen!

Meine Sicht als Russland-Koordinator ließe sich so umschreiben: Erstens bedeutet die globale Finanz- und Wirtschaftskrise für Deutschland und Russland einen tiefen, vielleicht sogar historischen Einschnitt. Wie in anderen Staaten stellen sich neue Fragen nach den Grenzen staatlicher und wirtschaftlicher Macht und einem zukunftsfähigen Konsens zwischen Staat und Gesellschaft.

Zweitens hat Russland die Krise jedoch nicht nur härter getroffen, sondern stellt es vor eine ungleich größere Herausforderung: die Wende zu einer gesamtgesellschaftlichen Modernisierung.

Drittens: Die neuen Herausforderungen eröffnen neue Chancen für die deutsch-russische Zusammenarbeit.

Dies wiederum schafft – viertens - neue Perspektiven für alle Ebenen der zwischengesellschaftlichen Zusammenarbeit, in der Wirtschaft und Zivilgesellschaft heute natürliche Partner sind.

Zu den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen. Ich würde sagen, die Krise hat uns näher gebracht, weil ein neues Bewusstsein über die gegenseitige Abhängigkeit entsteht und weil – vielleicht noch wichtiger - viele Politiker und Unternehmer bereits über das Ende der Krise hinausdenken.

Deutschland bleibt Russlands wichtigster Handelspartner und Russland für Deutschland der „Boom-Markt Nummer 1“ (Wirtschaftswoche), der heute bereits rund 70.000 deutsche Arbeitsplätze sichert. Wenn Europas zweitgrößter Automarkt um 60% einbricht, leiden deutsche Arbeitnehmer in allen großen Autowerken.

So war beim Opel-Rettungspaket der Zuschlag für den Zulieferer Magna mit seinen russischen Partnern Sberbank und GAZ, deren Konzept auf den russischen Markt setzt, wohl kein Zufall. (Lassen Sie mich dazu nur kurz sagen: Auch wenn der Einstieg bei Opel in Russland als „Coup“ gefeiert wurde, bleiben für die deutsche Öffentlichkeit viele Fragezeichen!)

Wie ich verstehe, ist die Stimmung der deutschen Wirtschaft in Moskau trotz spürbarer Absatzeinbußen weiter positiv. Kaum eine der fast 6.000 hier registrierten deutschen Firmen plant einen Rückzug, zeigt eine neue Studie der Wirtschaftswoche.. Trotz großer Klagen über fehlende Rechtssicherheit, Korruption, Bürokratie und komplizierte Steuerregeln setzen die meisten Unternehmen auf die großen Chancen des Russlandgeschäfts.

Schon heute überwiegt bei vielen deutschen und russischen Großunternehmen der Versuch, jenseits der Krise neue langfristige Perspektiven im Russlandgeschäft aufzubauen – das unterstreicht vor allem die Einigung von Siemens mit dem Nuklearkonzern Rosatom auf eine strategische Zusammenarbeit in der Kernenergietechnik.

Dieses Signal sollte auch der Besuch der 230(!)-köpfigen Rekorddelegation aus „meinem“ Bundesland Baden-Württemberg unter Leitung von Ministerpräsident Oettinger Ende Mai setzen. Die hochrangigen Gespräche und vor allem das Richtfest für das große neue „German Center“, das Anfang 2010 eröffnet werden soll – das war mehr als “business as usual” und unterstrich ebenfalls den Versuch, auf die „Krise als Chance“ zu setzen.

Doch machen wir uns nichts vor: Noch ist dieser Tag nicht abzusehen. Allein im Januar/Februar ging der deutsch-russische Handel um fast 50% zurück - noch hält der Trend an. Deutsche Exporte im Wert von rund 2,5 Mrd. Euro sind wegen Finanzierungsproblemen russischer Partner in Gefahr – und mit ihnen 4.000 deutsche Arbeitsplätze.

Noch hat die russische Regierung den Vorschlag des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, einen Garantiefonds für notleidende russische Unternehmen einzurichten, nicht realisiert.

Allgemein hat sich die Auftragslage für deutsche Unternehmen in Russland erheblich verschlechtert; viele Projekte, auch in den strategisch wichtigen Hochtechnologie- und Energiesektoren, sind auf Eis gelegt oder gänzlich storniert. Grundsätzlich hofft die deutsche Wirtschaft - ebenso wie die deutsche Politik – darauf, dass die Krise in Russland dazu führt, viele der nötigen Strukturreformen durchzuführen, die Russland bislang versäumt hat.

Bei Russland-Aktuell
• Steinmeier: Onkologiezentrum und Modernisierung (10.06.2009)
• Dokumentation: Redetext Steinmeiers vor der Akademie der Wissenschaften, Moskau (10.06.2009)
• Steinmeier-Rede: ostpolitische Konzeption formuliert (10.06.2009)
Noch überwiegt indes die Skepsis. Bisher zeigen sich ganz andere Tendenzen: protektionistische Maßnahmen, sinkende Investitionen und eine weitere Konzentration wirtschaftlicher Macht beim Staat. Auch die erneute Verzögerung bei den WTO-Verhandlungen ist kaum ein Zeichen für einen „neuen Aufbruch“, wie ihn Bundesminister Steinmeier jüngst gefordert hat.

Wie also trotzt Russland der Krise - der ersten „echten kapitalistischen und globalen Krise“, die das „neue Russland“ durchmacht?

Bei Russland-Aktuell
• Das Signal von Petersburg: Sozialer Protest lohnt sich (08.06.2009)
• Strassenblockade wirkt: Putin verspricht Hilfe f. Provinz (04.06.2009)
• Das Petersburger Wirtschaftsforum und die Krise (04.06.2009)
• Lohnschulden in Russland auf 200 Mio. Euro gestiegen (17.06.2009)
• Medwedew: Gouverneure stehen für soziale Lage gerade (10.06.2009)
Auf dem jüngsten Petersburger Wirtschaftsforum wurde laut darüber geredet, dass man bereits wieder den Champagner kaltstellen könnte. Dass es dafür zu früh ist, wie auch Präsident Medwedew klar unterstrich, zeigte die überstürzte Reise von Ministerpräsident Putin in den kleinen Ort Pikaljowo, von dem noch nicht viele gehört hatten. Laut der Zeitung „Moskowskij Komsomolez“ war nicht das hochrangig besetzte Petersburger Wirtschaftsforum, sondern Pikaljowo mit seinen 300 protestierenden Arbeitern Putins wichtigstes Reiseziel in diesem Jahr, vielleicht sogar seiner ganzen Zeit als Regierungschef, wie die Zeitung meinte.

Denn auch wenn Umfragen klar zeigen, dass die russische Bevölkerung der politischen Führung weiter vertraut, gibt es, wie Experten meinen, Dutzende weiterer Pikalkowos, vor allem sog. Monostädte, die von hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind, in denen sich Proteste entzünden können.

Tatsächlich hat sich - nach ersten Hoffnungen, dass Russland den Sturm als „Insel der Stabilität“ überleben könne - schnell gezeigt, dass es im Gegenteil härter betroffen ist als die meisten Länder. Die Zahlen sind alarmierend – Sie kennen sie gut genug.

Mich besorgt vor allem der Rückgang der Industrieproduktion, zuletzt monatlich um 17% mit steigender Tendenz, der Rückgang inländischer Investitionen, v.a. im Bereich Infrastruktur, aber auch der ausländischen Investitionen, um ganze 30% im ersten Quartal 2009, und die massive Kapitalflucht, die westliche Experten für dieses Jahr auf bis zu 180 Mrd. $ schätzen.

Diese Entwicklungen gefährden nicht nur viel von der wirtschaftlichen und politischen Aufbauarbeit der letzten Jahre, sondern v.a. die ehrgeizige Modernisierungs-agenda 2020 des Tandems Medwedew-Putin.



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