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Da staunt der Amerikaner im Lande der Bolschewiken. Mr. West auf seiner abenteuerlichen Reise in den „wilden Osten“. (Foto: ARTE)
Da staunt der Amerikaner im Lande der Bolschewiken. Mr. West auf seiner abenteuerlichen Reise in den „wilden Osten“. (Foto: ARTE)
Freitag, 08.04.2011

Stummfilm-Klassiker: Mr. West im Lande der Bolschewiki

Berlin. Der volle Titel lautet: „Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki.“ Berlin darf sich auf einen sowjetischen Stummfilm-Klassiker aus dem Jahre 1924 freuen – die Geburtsstunde des Kuleschow-Effekts.

Was ist ein Kuleschow-Effekt, mag sich jetzt so mancher fragen. Der Effekt ist benannt nach dem sowjetischen Regisseur Lew Kuleschow, der an der damals gerade erst gegründeten Moskauer Filmhochschule als erster mit Montagetechniken im Film experimentierte.

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Experiment geglückt, Künstler vergessen


Bereits zur Zarenzeit, als es Kuleschow noch nicht möglich war, eigene Filme zu drehen, versuchte er sich an der Montage, um zu erkennen, dass eine filmische Aussage erst durch den hergestellten Kontext erreicht wird. Diese Technik wollte er perfektionieren, half sie doch immens, die Rolle der Schauspieler zu betonen.

So unbekannt er heute sein mag, Ende der 20er Jahre genoss Lew Kuleschow, wie viele seiner filmschaffenden Kollegen, fast ebenso viel Aufmerksamkeit wie Eisenstein, Wertow oder Pudowkin. Ihre Kunst sollte kühn und rücksichtslos sein. Genauso kühn und rücksichtslos wie die Revolution der Arbeiterklasse dem „Alten“ gegenüber…

Amerikanische Action und sowjetische Klischees


Futurismus und Konstruktivismus – das war der neue Zeitgeist des kommunistischen Arbeiter- und Bauernstaates. Aber noch etwas anderes drang in die junge sowjetische Filmkunstszene ein: Populärkultur. Exzentrisch, ja sogar geradezu grotesk durfte es gern sein.

Wann und wo
12.04. und 14.04.2011, jeweils um 19.30 Uhr – Berlin, Arsenal im Sony-Center
Und was lag da nun näher, als sich am amerikanischen Kino zu orientieren. Rasante Schnitte, tollkühne Montagen, der Slapstick an sich. Das Genre hatte einen neuen Bezugspunkt. Das war hervorragendes Gegengift zur psychologisierenden und dadurch zur Trägheit neigenden Kultur des Bürgertums.

Ironisierte westliche Vorurteile


Natürlich ist der Mr. West überspitzt dargestellt. Unbedingt braucht es einen waschechten Cowboy mit Lasso und Colt als persönlichen Geleitschutz. Und auf jeden Fall erwartet Mr. West in Moskau nichts anderes vorzufinden, als zottelige, in Felle gehüllte Wilde. Eben die Bolschewiken.

Die trifft er dann auch gleich kurz nach seiner Ankunft in Russland. Jedoch: Es sind gar keine echten Bolschewiken, die ihn zu allererst seiner Habseligkeiten entledigen. Mr. West zieht durch sein Auftauchen in Russland begierige Blicke auf sich. Selbstverständlich auch die der Nicht-Bolschewiken.

Klischees und wie geht man damit um


Der in seiner Heimat recht angesehene Senator und Geschäftsmann Mr. West muss nun seine klischeebeladenen Ansichten von der Sowjetunion noch einmal gründlich überdenken. Hatte er doch eine, wenn auch vage, Vorstellung von dem wilden Land, in dem er hoffte, Geschäfte betreiben zu können.

Ziemlich schnell kommt er auf den Trichter, dass sein Comic-Zerrbild von der „Roten Brut“ lediglich von geschäftstüchtigen Ganoven durchschaut und ausgenutzt wurde. Groteske Kostüme, rote Banditen mit überdimensionierten Schnurrbärten – das reale Russland sieht anders aus.

Der vermeintliche Bolschewik von seiner besten Seite. Kostümiert, schnurrbärtig und verschroben. (Foto: ARTE)
Der vermeintliche Bolschewik von seiner besten Seite. Kostümiert, schnurrbärtig und verschroben. (Foto: ARTE)

Ein Comic-Bild zerbröselt


Im Wesentlichen verhöhnt der großartige Film mit seinen doch recht einfachen Mitteln, lediglich die amerikanische Ignoranz gegenüber der Sowjetunion. Darüber hinaus bedient sich Kuleschow, schon fast arrogant und anmaßend, der westlichen Stereotypen des Gangsterfilm-Genres.

Dem von seinen getürkten Bolschewiken in die Irre geführtem Mr. West kann nun nicht einmal sein Cowboy Jeddie helfen, die beiden haben ein ernstes Problem. Aber, wie so oft im Film, die Rettung naht. Sie kommt sogar in Form der „echten“ Bolschewiken, die der Ganovenbande auf die Spur gekommen sind.

Sieht das wahre Russland etwa anders aus?


Und nun haben die beiden Amerikaner ein ganz anderes Problem. Sie müssen ihre Meinung über das barbarisch rote und unzivilisierte Russland gründlichst revidieren. Die Bolschewiken waren die „Guten“, und die Falschen, die ihrer Vorstellung von der Sowjetunion entsprachen, die „Bösen“.

Als Mr. West schließlich dann doch zufrieden durch Moskau fährt, erkennt er mit einem Mal, dass die Revolution die kulturellen Interessen in keinster Weise erfasste und das „neue“ Russland so gar nicht seiner Propaganda entspricht. Mr. West ist baff…

Klischees hinterfragen?


Vermutlich ist genau dieses Zusammenspiel von Klischees und wirklichen, vor Ort erlebten Bildern das perfekte Modell der Völkerverständigung. Die Bolschewiken sind gar nicht so garstig, wie es Mr. Wests westliche Propaganda suggeriert, und er muss erkennen, dass das (damals) moderne Russland etwas Liebenswertes hat.

Mr. West erlebt eine sonderbare Wandlung. Er befreit sich durch seine Erlebnisse aus seinen Vorurteilen. Vielleicht mag es dem Menschen im 21. Jahrhundert auch ein wenig helfen, seine eigenen Modellbilder abzulegen und etwas Neues, etwas Unerwartetes, hinzufügen.



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