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Donnerstag, 24.01.2013

Ein paar Gedanken zur neuen russischen Armut

Hinter Petersburgs bröckelnden fassaden verbirgt sich viel Armut. (Foto: Brammerloh/.rufo)
St. Petersburg. Eine heruntergekommene Wohnung im Petersburger Stadtzentrum, wo NICHTS funktionieren will. Sie dient Susanne Brammerloh als „Notunterkunft“ – und lässt sie nachdenken über eine sehr verbreitete Armut.

Die Hausherrin dieser Bruchbude hat kein Geld, einfach ÜBERHAUPT kein Geld. Sie hat sich von ihrer ehemaligen Arbeitgeberin überreden lassen, einen Kredit aufzunehmen, „für die Firma“, wie es hieß.

Dann hat sich die Chefin abgesetzt, und jetzt muss meine Bekannte, damit sie irgendwie über die Runden kommt, für die russisch-orthodoxe Kirche durchs weite Land reisen und auf „kirchlichen Basaren“ allen nur erdenklichen Mist verkaufen, mit dem die Kirche sich ein gutes „Nebenbrot“ verdient.

Mission für die orthodoxe Kirche


Was verkauft sie? Kleine Heiligenbildchen, Kerzen, die sogenannten Treby – die Kirche nimmt Geld für Totengedenken und Glücks- und Segenswünsche, die auf kleinen Zettelchen dem Priester vorgelegt werden, die er dann im Gottesdienst verliest.

Meine Bekannte zuckelt also an die Wolga, in den Ural und nach Sibirien und muss sich mit einer Sache abgeben, die mir als Lutheranerin einen kalten Schauer über den Rücken laufen lässt. Sie glaubt an ihre Mission – das lässt sie jedenfalls nach außen verlauten. Wie es bei ihr im Inneren aussieht, möchte ich mir gar nicht vorstellen…

Krediteintreiber auf den Fersen


Aber sie braucht ja Geld, denn die Krediteintreiber (auf Russisch: kollektory) sind ihr auf den Fersen, telefonieren hinter ihr her und üben Terror aus. Also lässt sie sich auf diesen zweifelhaften Handel ein. Derweil geht ihre Wohnung vor die Hunde.

Ich habe in meinem Leben selten so etwas erlebt, wie hier. Keine Schranktür lässt sich öffnen oder schließen, wie es sein sollte. Auf Schritt und Tritt geht irgendetwas kaputt, zerbricht, zerbröckelt, Glühbirnen platzen, selbst die Klobrille ist nicht befestigt…

Nachdenken statt Hysterie


Ich bin jetzt eine Woche hier und ärgere mich bis zur Hysterie. Aber irgendwann kam mir der Gedanke: Was habe ich ein Glück gehabt bis hierher in meinem Leben, denn ich habe eine große, schöne Wohnung, ich hatte bisher immer genug Geld für ein vergleichsweise bequemes Leben (aus russischer Sicht, Deutsche würden mein Gammelhaus wahrscheinlich nur mit Nasenrümpfen einschätzen).

Ich habe es hier mit einer russischen Armut zu tun, die ich bis dato aus meinem Leben ausgeschaltet hatte, weil ich sie niemals so nah an mich herankommen lassen musste. Wenn ich weiterdenke… Meine unmittelbare Nachbarin am Rimski-Korsakow-Prospekt lebt auch nicht viel besser.

Ich rümpfe immer die Nase, wenn ich bei ihr zu Kurzbesuchen bin. Da stinkt es, da stinkt die elementare Armut. Und wie viele Menschen gibt es, denen es ähnlich geht? Vielleicht sollte ich von meinem hohen Arroganz-Pferd steigen?

Traurig ist das alles. Vielleicht ist es für mich ein Schritt zum Umdenken in Perspektive. Ein Trost: Der dicke weiße Kater meiner Bekannten, die mir großzügig ihre Bruchbude überlässt, liegt hinter mir auf dem Sofa und murmelt sich was in seine langen kräftigen Barthaare. Der ist glücklich, dass er nicht allein ist. Das ist doch auch schon ein Erfolg…

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