Mittwoch, 27.04.2005
Autismus: In die normale Welt hinüberziehenKarsten Packeiser, Moskau. Russische Fachärzte hatten mehrfach erklärt, der kleine Andrej (*) leide an einer hoffnungslosen Form von Autismus. Die Pflegeeltern wollten sich aber nicht mit der Diagnose abfinden.
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Sie nahmen einen hartnäckigen und langwierigen Kampf gegen Andrejs irrationale Ängste und die unzähligen, für andere Menschen oft sinnlosen Rituale seines Alltags auf mit veblüffenden Ergebnissen.
Als Sergej Soschinski und seine Frau Natalja den Jungen im Dezember 1998 bei sich einquartierten, hatten sie das Wort Autismus noch nie gehört. Über viele Dinge wunderten sie sich maßlos: Etwa darüber, das das Kind es absolut regungslos hinnahm, als seine leiblichen Eltern ihn in der Pflegefamilie zurückließen. Der kleine Andrej konnte stundenlang scheinbar teilnahmslos aus dem Fenster starren, mit vier Jahren aber nur einige Worte sprechen. Er spielte nie mit anderen Kindern, weinte nie und trank nur Fruchtsaft einer bestimmten Marke aus einem bestimmten Moskauer Supermarkt.
Kein Verständnis für „besondere Kinder”
Auf viel Verständnis ihrer Umwelt konnten sie mit ihrem “besonderen Kind” nie rechnen. Zwar wurden geistig behinderte Menschen in alten Zeiten in Russland oft als heilig verehrt, aber in den Jahren nach der Oktober-Revolution meist in geschlossenen Heimen weitab von den großen Städten weggeschlossen und weitgehend sich selbst überlassen. Bis heute gibt es im russischen Straßenbild kaum Behinderte. Wie vielen in Heime abgeschobenen Kindern geholfen werden könnte, wenn sich jemand um sie kümmern würde, weiß niemand. “Man müsste bei uns viel mehr über das Thema kranke Kinder sprechen”, ist sich auch Sergej Soschinski sicher, der unter dem Titel “Eine Kerze entzünden” ein Buch über die Erfahrungen seiner Familie geschrieben hat.
Zweikampf im Zirkus
Von Anfang an setzten sich die Pflegeeltern das Ziel, Andrej mit aller Kraft in die Welt der gewöhnlichen Menschen hinüberzuziehen, statt die Umwelt dem autistischen Kind anzupassen. Jeden Bruch mit alten Verhaltensmustern bereitete die Familie gründlich vor, Andrejs wütende Proteste und missbilligende Blicke blieben dennoch nie aus:
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Kontakt zu Sergej Soschinski |
für alle, die an den Erfahrungen der Familie oder an dem Buch Saschetsch Swetschu (Eine Kerze entzünden) interessiert sind:
119 296 Moskau, do wostrebowania
oder per Email:
andrusha_321 @ mtu-net.ru
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“Ich hielt Andrej den Mund zu, damit er nicht so laut schreien konnte und man uns nicht fortjagte“, erinnert sich Pflegemutter Natalja in dem Buch an den ersten Zirkus-Besuch, “Als das Licht ausging, versuchte er, sich loszureißen und schlug auf den Fußboden. Ich war klitschnass geschwitzt, aber ich beschloss, nicht wegzugehen. Koste es, was es wolle.“ Nach einer halben Stunde, so der Tagebucheintrag, änderte sich das Verhalten des Kindes schlagartig. Andrej wurde ruhig, schaute den Artisten zu und klatschte mit allen anderen Zuschauern.
Erinnerungen an die Kindheit
Nach über sechs Jahren intensiver Betreuung besucht Andrej inzwischen eine Sonderschule, wo er aber weiter Einzelunterricht erhält, weil er sich sehr schlecht konzentrieren kann. Auf den ersten Blick ist er ein stiller, schüchterner Junge, der inzwischen gerne in den Zoo geht und sich über die Tiere dort wundert. “Was für ein langer Hals”, ruft er beeindruckt am Giraffen-Gehege. Trotz aller bleibenden Probleme: Inzwischen könne man die Entwicklung immerhin mit der anderer Kinder vergleichen, sagt Sergej Schoschinski.
Vor kurzem stellten Andrejs Pflegeeltern überrascht fest, dass der Junge sich hervorragend an seine frühe Kindheit erinnert. Er wusste noch genau, wie seine Eltern ihn zu der neuen Familie brachten, wie er seine Angst vor dem Fahrstuhl-Fahren und vor der U-Bahn überwand. Sein damaliges Verhalten erklärt er heute damit, er sei damals “noch klein”, gewesen.
(*) Name auf Wunsch der Familie geändert
(epd/kp)
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