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Die Moskauer Metro befördert töglich Millionen Passagiere (Foto: Mrozek/.rufo)
Die Moskauer Metro befördert töglich Millionen Passagiere (Foto: Mrozek/.rufo)
Donnerstag, 02.03.2006

Moskauer Metrokultur: Kult von Buch und Bier vereint

Moskau. In der (un)guten alten Sowjetzeit haben die Moskauer in der U-Bahn Dostojewski gelesen. Heute schlürfen sie Bier aus der Flasche. Auf den ersten Blick stimmt das Klischee, zumal in Bezug auf das Bier. Doch der Schein trügt.

Wenn der Zug anfährt, rollen leere Bierflaschen und –dosen einem unter die Füße. Ein Blick genügt, um festzustellen, dass im Vergleich zu einst weniger gelesen wird. Allerdings griffen diejenigen, die jetzt in der Metro Bier trinken, auch früher nie zum Buch.

Andere, die selbst in der Rushhour, die linke Hand an der Haltestange festgekrallt, in der rechten einen Gedichtband hielten, fahren nicht mehr Metro. Sie stecken oberirdisch in Staus. Russlands lesende Mittelklasse fährt neuerdings Auto. Die Behauptung, die Moskauer tränken Bier statt zu lesen, scheint zumindest mächtig überzogen.

Es wird immer noch viel gelesen


Bei Russland-Aktuell
• Metro-Special
• Neulich in der Metro – Der tägliche Wahnsinn (22.03.2005)
• Neulich in der Metro: Die Bettlerin (07.01.2004)
• 70 Jahre – Moskau und die Metro
Nach wie vor wird in der Metro fleißig gelesen. Über den Daumen gepeilt legt immerhin jeder sechste Fahrgast den täglichen Weg von und zur Arbeit in eine Zeitung, Illustriertte oder ein Buch versunken zurück. Es gibt auch Hörbücher, Taschencomputer mit darauf kopierten Texten und probeweise sogar U-Bahninternet. Der Anteil intellektueller Betätigung dürfte folglich im Vergleich zum Bierkonsum gar nicht so gering ausfallen.

Damenkrimis machen den Umsatz


Das Geschäft liefe gut, meint Anna Pawlowna (56), Verkäuferin am Bücherstand vor der U-Bahnstation Konkowo. Den Umsatz sichern so genannte Damenkrimis, Meterware, die unter bekannten Namen von verschiedenen Schreibern produziert und auf einen Einheitsstil umgeschrieben wird. Die Auflagen gehen in Hunderttausende. Anspruchsvollere Unterhaltungsschriftsteller wie Boris Akunin oder Oxana Robski („Casual“ u.a.) schreiben selbst.

Zahlreich sind Übersetzungen international bekannter Autoren (Dan Brown, Sidney Sheldon etc.) Derzeit sei das Enfant Terrible der japanischen Literatur Haruki Marukami („Naokos Lächeln“) „in“, sagt die Verkäuferin.

Klassiker nach wie vor gefragt


Eine Frau nimmt zwei Gedichtbände von Arseni Tarkowski (Vater des weltbekannten Filmregisseurs Andrej Tarkowski) mit. Sergej Jessenin, den es gestern noch gab, ist bereits weg. Russische Klassiker werden gern gekauft, wohl aber nicht für unterwegs, so Anna Pawlowna. Gefragt seien Michail Bulgakow und – wer hätte es gedacht – Fjodor Dostojewski. Von zeitgenössischen Autoren verkaufe sich Ludmila Ulizkaja (der neueste Roman „Menschen unseres Zaren“) am besten.

Vogelgripperoman ist der Renner


Der Renner ist „Türkische Liebe“ von Julia Schilowa. Darin wird die Hauptheldin, „zarte und reine Schönheit ohne jede Spur von Geschlechtskrankheiten“, im Urlaub von feurigen Südländern sexuell belästigt. Sie bleibt zwar standhaft, lässt sich aber von einem Huhn, „aus dessen Kehle Blut herumspritzte“, mit Vogelgrippe anstecken. In Jalta wird derzeit der erste Vogelgrippefilm danach gedreht. Die männliche Hauptrolle spielt der türkische Popstar Tarkan.

Auch Moskau hatte einmal Bierkneipen


„In Moskau, da is keene Kultua“, sagt ein Freund aus Berlin. „In Balin, da jehste an die Ecke, hast een Bier und een Jespräch, und det nenn ick Kultua“, schließt er seine Überlegung. Dass es auch in Moskau mal Bierkneipen gab, will der Zille-Verehrer („Kultur von Berlin ist die Eckkneipe“) nicht glauben. Die gab es aber wirklich, bis sie 1957 vor den Moskauer Jugendweltfestspielen als „Muttermal des Kapitalismus, das die kommunistische Weltstadt verunschönte“, komplett beseitigt wurden.

Grüne Schlange vs. Schöne kühle Blonde


In den letzten Jahren wurde die schöne kühle Blonde in Russland regelrecht verteufelt. Der Hauptsanitätsarzt Gennadi Onischtschenko entdeckte einen neuen „Bieralkoholismus“. Eine junge Frau mit einer Bierflasche in der Hand sei für ihn ein Albtraum (so, als wäre eine mit einer Wodkaflasche schöner). Die Bierwerbung im Fernsehen wurde drastisch eingeschränkt und das Biertrinken in der Öffentlichkeit „mit Ausnahme von eigens dafür vorgesehen Orten“ generell verboten.

In der Sowjetzeit wurde kein Bier in der U-Bahn getrunken, weil es kaum welches gab. Nach der Demokratiewende entstanden moderne Großbrauereien in Moskau, Klin und St.Petersburg. Der jährliche Prokopfverbrauch stieg von Nullkommanichts auf 35 Liter. Mit 146 Liter in Deutschland ließ es sich zwar nicht messen, die Wodka-Lobby fühlte sich aber bedroht. Die „grüne Schlange“, so nach der einstigen grünen Wodkaflaschenfarbe genannt, räumt nicht gern die Stellung.

„Eigens für den Bierkonsum vorgesehene Orte“ sind in Moskau selten, wenig gemütlich und für den Normalbürger zu teuer. Eine Lösung wären tatsächlich Eckkneipen, wo man einfach auf ein Bier, ein Buch und ein Gespräch einkehren könnte.

(adu./rufo)



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