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Kleine Chance für Fußgänger: Alltagsverkehr auf dem Leninski Prospekt (Foto: tp/rufo) |
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Donnerstag, 31.08.2006
Kaliningrad: Fußgänger protestieren gegen RaserKaliningrad. Ein schwerer Unfall, bei dem eine 32-jährige Mutter und eines ihrer Kinder ums Leben kam, hat die Kaliningrader aufgerüttelt. In einem Offenen Brief fordern sie mehr Schutz vor Rasern.
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Am Moskauer Prospekt, unterhalb des Schlossplatzes nahe der Hochbrücke des Lenin-Prospektes, liegen neben einem Fußgängerüberweg viele frische Blumen, und immer noch kommen Tag für Tag welche dazu. Hier starb vor einer Woche Olga R.
Ein Hyundai erfasste die 32-jährige Frau, als sie mit ihren beiden Kindern auf einem Zebrastreifen die Straße überquerte. Die junge Mutter war sofort tot. Der kleine Anton, anderthalb Jahre alt, starb am Dienstag im Krankenhaus. Sein Bruder Jaroslaw (4) wird, sollte er überleben, lebenslang behindert bleiben.
Der Fahrer des Unfallwagens, ein 19-jähriger Student mit wenigen Monaten Fahrpraxis, war mit Freunden im geborgten Auto in der Stadt unterwegs. Auf Vergnügungstour, wie er der Polizei sagte. Die Frau habe er übersehen. Das tat er wohl wegen der extrem hohen Geschwindigkeit, mit der er den Moskauer Propekt entlang jagte. Auf der Magistrale, die die Stadt vierspurig durchschneidet, wie gerast wie auf einer Autobahn.
Verkehrssicherheit: Den Bürgern platzt der Kragen
Schon lange beklagen viele Kaliningrader die wachsende Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr. Doch der furchtbare Unfall auf dem Moskowski ließ das Fass überlaufen. Wir fordern endlich mehr Sicherheit für Fußgänger auf den Straßen Kaliningrads und des Gebietes, heißt es in einem an die Gebietsregierung, die Stadtverwaltung und den Chef der Miliz gerichteten Offenen Brief, der zunächst auf der städtischen Website (www.kaliningrad.ru) veröffentlicht und inzwischen von allen Kaliningrader Zeitungen gedruckt wurde.
Darin bekommt auch die Polizei ihr Fett weg: Oft passieren schwere Unfälle in unserer Stadt unter den Augen der Mitarbeiter der Miliz, die sich praktisch nicht mit der Sicherheit auf den Straßen beschäftigt.
Mehrere Hundert Einwohner haben den Brief bereits unterzeichnet. Selten löste ein Thema in der Gebietshauptstadt so viele Emotionen aus wie der Unfalltod der jungen Mutter und ihres Kindes. Die Kaliningradskaja Prawda druckte ein Spendenkonto für die Familie der Getöteten ab. Die Telefonleitungen der Kaliningrader Miliz-Zentrale brachen zeitweise zusammen, soviele Anrufer forderten härtere Strafen für Raser und mehr Einsatz der Verkehrspolizei. Aus dutzenden Beiträgen im User-Forum der städtischen Homepage spricht Entsetzen, Trauer und Wut über die immer brutalere Fahrweise viele Autofahrer.
Erst stehen im Stau, dann rasen wie die Sau
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Autobahnbreit und ohne Überwege: Kaliningrads Hauptstraßen (Foto: Plath) |
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Rücksichtsloser Egoismus, gepaart mit überhöhten Geschwindigkeiten, gehört zum Alltag im chronisch überlasteten Kaliningrader Straßenverkehr. Frei nach dem Motto Jeder ist sich selbst der Nächste hetzt eine endlose Blechkolonne durch die Straßen der Pregelmetropole, als würden an der jeweils nächsten Ampel Siegprämien verteilt.
Verstopfte Kreuzungen und die vielen Baustellen verführen zusätzlich dazu, an den dazwischen liegenden Abschnitten auf Teufel komm raus zu rasen. Lieferanten prügeln altersschwache Kleintransporter durch engste Lücken in den Kolonnen, jugendliche Draufgänger fahren ihre Mädchen in Tieffliegermanier spazieren, gestresste Busfahrer müssen Pkw rabiat zum Spurwechsel zwingen, um überhaupt wieder von den Haltestellen wegzukommen.
Am brutalsten benehmen sich die Fahrer schwerer Luxus-Limousinen und Geländewagen. Für diese neureichen Aufsteiger scheinen im russischen Straßenverkehr besondere Regeln zu gelten. Dazu gehört die Selbstverständlichkeit, bei Staus über Straßenbahn-Trassen und Gehwege auszuweichen und Passanten wie langsamfahrende Wagen regelrecht von der Fahrbahn zu jagen.
Die Straßenlage: Es ist wie Krieg
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Panzer für Straßenkrieger: Geländewagen in Kaliningrad (Foto: Plath/.rufo) |
Es herrscht das Faustrecht des Stärkeren, und der Stern auf der Kühlerhaube wird zum Visier. Es ist wie ein Krieg, sagt ein Milizionär. Doch nur selten wird einer der Oberklasse-Chauffeure von der Verkehrspolizei gestoppt.
Ähnlich rowdyhaft sind aber auch viele Fahrer von Dienstwagen der großen Behörden unterwegs. Ob Gebietsregierung, Stadtverwaltung, Regionalduma: Deren schwere Limousinen müssen Verkehrskontrollen kaum fürchten. Sie zeigen ihren Dienstausweis oder irgendeinen Passierschein, und schon geht es weiter auf der Überholspur.
Zebrastreifen als gefährliche Fallen
Die Opfer sind die Fußgänger. Sie sind der rücksichtslosen Automeute schutzlos ausgeliefert. Eine Straße wie den Leninski Propekt zwischen Sieges- und Schlossplatz an einem normalen Werktag überqueren zu wollen, kann zu einer lebensgefährlichen Aktion werden.
Auf der vierspurigen Straße mitten im Zentrum wird schneller gefahren als außerorts erlaubt, und die Zebrastreifen nützt den Passanten wenig: Angehalten wird hier nur, wenn Fußgänger in größeren Gruppen die Straßen queren. Fast jeden Monat werden auf dem Leninski Passanten angefahren oft auch auf einem Fußgängerüberweg. Schon mehrfach endeten die Unfälle tödlich.
Neue Todespisten wachsen schon
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Die Qualität der Gehwege lässt in der Stadt zu wünschen übrig (Foto: Plath) |
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Der Ausbau der großen Zufahrtsstraßen schafft neue Todespisten. Seit die Alexander-Newski-Straße (ehemals Cranzer Allee) durch den Abbau der Straßenbahngleise zu einer vierspurigen Schnellstraße erweitert wurde, rasen viele Autofahrer mit irrsinnigem Tempo bis zum Wassilewski-Platz im Stadtzentrum durch. Die Newskogo avancierte so aus dem Stand zu einer gefährlichen Rennstrecke. Erst im Juli kamen dort bei einem Frontal-Crash zweier Autos fünf Menschen ums Leben.
Gerade ist auch die Gorki-Straße breit ausgebaut worden und auch dem vielbefahrenen Sowjetski Prospekt aus und in Richtung Swetlogorsk steht nach der Generalsanierung eine ähnliche Entwicklung bevor.
Die Unterzeichner des Offenen Briefes fordern daher den Bau von sicheren Überwegen: In vielen Städten Europas werden, um den direkten Kontakt von Fußgängern mit dem Autoverkehr zu vermeinden, Unterführungen gebaut. In Kaliningrad gibt es nur einen einzigen solcher Tunnel. Der wird kaum benutzt, weil er sich weitab vom Zentrum befindet.
Bürgermeister kündigt Sicherheitskonzept an
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Nur in Gruppen halbwegs sicher: Fußgängerüberweg am Leninprospekt (Foto: Plath/rufo) |
Der Unfall auf dem Moskowski hat auch die Stadtoberen aufgerüttelt. Als Erster meldete sich Bürgermeister Juri Sawenko öffentlich zu Wort. Er sagte der Familie der getöteten Mutter die Hilfe der Stadt zu und kündigte an, in Kürze einen gemeinsam mit der Polizei erarbeiteten Plan für mehr Verkehrssicherheit auf den Kaliningrader Straßen vorzustellen: Die Forderungen sind berechtigt. Wir brauchen mehr sichere Unterquerungen, und wir werden sie bauen, auch weitere Fußgängerampeln und Überwachungskameras an gefährlichen Kreuzungen. Wir tun, was wir können. Die Situation wird sich aber erst bessern, wenn die Autofahrer ihr Verhalten ändern.
Höchste Autodichte Russlands: Hilft mehr Kontrolle?
Der Chef der Verkehrspolizei, Juri Kasakow, verspricht darum deutlich mehr Präsenz von GAI-Streifen und Geschwindigkeitskontrollen im Stadtgebiet. Eine Kommisssion der Innenbehörde will jetzt zudem die Qualität der Fahrschulen des Gebietes überprüfen. Die Ausbildung gilt allgemein als mangelhaft, und junge Autofahrer mit wenig Fahrpraxis verursachen viele Unfälle. Offenbar bedurfte es erst einer Tragödie, um zu dieser Erkenntnis zu kommen.
Kaliningrad hat, auf die Einwohnerzahl gerechnet, die höchste Pkw-Dichte in Russland und eine der schlimmsten Unfallbilanzen. Nicht nur in der Gebietshauptstadt fordert die brutalen Fahrweise und Selbstüberschätzung Opfer. In der vorigen Woche kam bei Nesterow nahe der litauischen Grenze ein Saab von der Straße ab und rammte mit hoher Geschwindigkeit einen Baum. Alle fünf Insassen, junge Offiziersschüler des Kaliningrader Grenzschutz-Instituts, kamen dabei ums Leben.
(tp/.rufo)
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